während eines Frankreichurlaubs waren wir auch in St. Jean Pied de Port, dem Beginn des Camino Frances 

 

Bist du schon den Jakobsweg gewandert?

Das ist kurioserweise tatsächlich die häufigste Frage, wenn mein Gegenüber erfährt, dass ich einen Fernwanderweg wandere. Nein, bin ich nicht. „Der“ Jakobsweg, den die meisten damit meinen – von St. Jean Pied de Port nach Santiago de Compostela – reizt mich nicht besonders. Er ist mir zu überlaufen, er ist mir zu sehr in Mode. Im Jahr 2023 waren über 450.000 Pilger*innen unterwegs. Ich mag keine freilaufenden Hunde, keine Hitze und keine lärmenden Herbergsschlafsäle, in denen um vier Uhr morgens die Ersten lautstark ihren Rucksack packen.

Sollte ich einmal „den“ Jakobsweg wandern, dann ist das der Jakobsweg, der vor meiner Haustüre beginnt. So sind Jakobswege entstanden: der Bußfertige wandert von zuhause los hin zu einem (hoffentlich persönlich wichtigen) spirituellen Ziel, und dann wandert er wieder zurück. Auf www.jakobswege-europa.de findest du das ganze Netz an Jakobswegen in Europa. Und darüberhinaus kannst du auch auf den Spuren anderer Heiliger wandeln: Es gibt Franziskus-, Martinus- und Wolfgangwege. Protestanten pilgern auf dem Lutherweg. Im Odenwald gibt es den Camino Incluso. Und bestimmt existieren noch viele weitere Wege mit spirituellen Hintergrund (wie wäre es mit einem Pilgerweg in Japan?).

Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich möchte niemandem den Camino ausreden, ich möchte ihn auch nicht schlechtreden. Viele kehren ganz begeistert zurück. Weil man unterwegs viele Gleichgesinnte trifft, können sich Freundschaften entwickeln, die auch die Zeit nach dem Weg überdauern, und das ist ohne Frage etwas Wertvolles. Mir geht es nur darum, dass du nicht unreflektiert und unvorbereitet zu einer Fernwanderung aufbrichst. Nicht umsonst sind die ersten Etappen des Jakobswegs mit Blasenpflastern und zurückgelassener Ausrüstung gepflastert. Setze dich vorher mit deinen Fähigkeiten, Wünschen, Erwartungen und Motiven auseinander, frage dich, ob der Camino dein Weg ist. Wenn du das bejahen kannst, dann wirst du dort auch Freude und Erfüllung finden. Und darum geht es ja beim Wandern hauptsächlich.   

zwischen Soltau und dem Steinhuder Meer war ich auf dem Jakobusweg unterwegs als Alternativroute zum E1


Hast du schon eine Alpenüberquerung gemacht?

Nein. Die Alpenüberquerung auf dem E5 ist der andere Wanderweg, der sehr populär ist und den gefühlt jeder kennt. Ich mag keine überlaufenen Wege (s.o.), bin nicht schwindelfrei und nicht absolut trittsicher, daher lasse ich das bleiben, bis ich mir die nötigen Fähigkeiten angeeignet habe. Aber reizen würde mich eine Alpenüberquerung schon… deshalb habe ich die recht kurze (und vielleicht auch nicht Alpenüberquerung im eigentlichen Sinne) Via Spluga (Thusis – Chiavenna) im Hinterkopf, und wenn die Zeit reif ist…

bei einem Urlaub in der Schweiz


Wandergebiet ist überall - der schlecht zu fotografierende Globus auf Burg Stahleck am Rheinburgenweg

 

Auswählen im Fernwandernetz

Neben Jakobsweg und Alpenüberquerung gibt es allein in Deutschland ein Netz von über 300.000 km markierten Wanderwegen, ungefähr 16.000 davon sind als Prädikats-, Premium- oder Qualitätswanderweg zertifiziert – da hat man allein schon im eigenen Land die Qual der Wahl. Es gibt für jeden Fitnessgrad und für jedes Interessensgebiet einen geeigneten Weg. Auf www.wanderbares-deutschland.de, in Outdoor-Zeitschriften und auf Tourismusportalen sowie nicht zuletzt den Seiten der Wandervereine findet man viele Inspirationen.

Auf welche Gegend bin ich neugierig, wo war ich noch nie, wieviel Zeit kann ich erübrigen und wie schwer darf die Strecke sein, sind ganz banal meine Ausgangsfragen vor der nächsten Tour. 

An dieser Stelle möchte ich eine Lanze brechen für die vielen Ehrenamtlichen, die die Wanderwege so vorbildlich markieren. Wenn du gerne wanderst und Nutznießer*in dieser Arbeit bist, wäre es vielleicht eine Überlegung, durch eine Mitgliedschaft in einem Wanderverband dieses Engagement zu unterstützen. Ich bin seit meiner Deutschland-Durchquerung Mitglied im Schwäbischen Albverein und im Schwarzwaldverein.

fast überall in Deutschland sind die Wege vorbildlich markiert, wie hier auf dem Schwäbische-Alb-Nordrandweg HW1 und dem Westweg


Positive Auswirkungen auf die Gesundheit

Wir leben in einer lauten Welt voller Hektik und Überfluss. Inmitten der Reizüberflutung und der Beschleunigung des Alltags setzt eine Weitwanderung einen wohltuenden Kontrapunkt. Hier sind wir aufs Wesentliche reduziert und können unser Augenmerk in Ruhe auf unsere Gedanken und Gefühle richten und unsere Umgebung intensiver als im Alltag wahrnehmen. Das in der Natur Unterwegssein lehrt Demut, weil du dir bewusst wirst, wie klein und unwichtig du in der Welt bist. Du spürst Dankbarkeit für das, was dir an Eindrücken, Begegnungen und Erfahrungen geschenkt wird. Obwohl du nur das Nötigste dabei hast, wird dir Reichtum zuteil.

Darüber hinaus ist ein Aufenthalt im Wald bewiesenermaßen gesundheitsfördernd, indem er u.a. dein Immunsystem schützen kann. Diesen Effekt macht man sich beispielsweise beim „Waldbaden“ zunutze, dem aus Japan stammenden Shinrin Yoku, das mittlerweile in gefühlt jeder waldbestandenen Ecke Deutschlands angeboten wird. In Kanada und Schottland kann man sich das Waldbaden und Wandern übrigens inzwischen auf Rezept verschreiben lassen.

Hier nur eine kurze, zufällige Auswahl an Aussagen darüber, wie Bewegung an der frischen Luft deine Gesundheit fördert.

„Immer mehr Menschen leiden an einer seelischen Erkrankung oder Depression. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein Aufenthalt in der Natur als natürliches Antidepressivum wirkt und regelmäßige Bewegung an der frischen Luft das Erkrankungsrisiko um 30% senkt. Wandern hebt das Selbstbewusstsein. Schon eine kurze Wanderung verbessert die Stimmung für bis zu sieben Stunden. Regelmäßige Bewegung kann effektiver sein als eine Behandlung mit Antidepressiva. Stress und Ängste können sich vermindern und der Schlaf sich verbessern.“(Quelle: www.blackdogoutdoors.co.uk)

Unter www.walk1000miles.co.uk findest du folgende Aussage: „Wusstest du, dass es weniger als einer Stunde wandern am Tag bedarf, um in einem Jahr 1.000 Meilen zu schaffen? Und dass dies dein Immunsystem dramatisch stärkt und dein Risiko, an Diabetes, Herzinfarkt, Übergewicht, Schlaganfall und Depression zu erkranken, senkt?“ Ich finde diese Aktion einer britischen Wanderzeitschrift großartig, weil der Ansatz so niederschwellig ist. Seitdem wandere ich in fast jeder Mittagspause, die ich im Home-Office verbringe, eine Runde durch den Wald.

,,Eine großangelegte Studie der Universität von Sydney mit beinahe 400.000 Teilnehmern im mittleren Alter fand heraus, dass diejenigen, die keinen Sport treiben und unter schlechtem Schlaf litten, eine um 45% höhere Chance hätten, an Krebs zu sterben als diejenigen, die fit waren und gut schliefen. Aber die schlechten Schläfer, die Sport trieben, hatten kein erhöhtes Krebsrisiko. Tatsächlich zeigte die Studie, dass Wandern hilft, dich vor vielen schädlichen Effekten eines schlechten Schlafes zu schützen, wie Herzkrankheiten, Diabetes, Schlaganfall und Depressionen oder vorzeitigem Tod.“ (Quelle: Country Walking, Ausgabe September 2023, S. 22)

eine kleine Wanderung in Thorsmörk/Island - bei einer solchen Aussicht geht einem das Herz auf

 

Es tut also bewiesenermaßen gut, sich zu einer Weitwanderung aufzumachen und sich der (möglicherweise ungewohnten) Anforderung zu stellen und dabei vielleicht auch an die eigenen Grenzen zu stoßen, seien es körperliche oder geistige. Denn es gilt jeden Tag weiterzuwandern, ob es regnet oder die Sonne vom Himmel brennt. Ob du Muskelkater hast oder Hunger und Durst.

Wir stellen uns hier einer völlig anderen Herausforderung, als bei einer Tagestour oder in unserem beruflichen und familiären Alltag verlangt wird. Herausgenommen aus dem gewohnten Umfeld kannst du dich vielleicht von einer ganz neuen Seite erleben. Vielleicht musst du dich auch mit deinem Scheitern auseinandersetzen, musst um deinen Weg ringen. Am Ende ist der Stolz auf das Erreichte dann aber sehr unmittelbar wahrnehmbar. Wie viele Gelegenheiten gibt es heute in unserem Leben, diesen Stolz auf sich selbst und die eigene Leistung so selbstwirksam zu spüren? Darüber hinaus ist eine solche Wanderung gerade für uns Frauen eine gute Möglichkeit, die „mental load“, die aus unserer Sozialisation und unserer beruflichen und familiären Mehrfachbelastung entsteht, zu reduzieren. Du bist auf der Wanderung nur für dich verantwortlich und musst jeden Tag nur ganz wenige Entscheidungen treffen – dein Weg ist klar, du musst nur einen Fuß vor den anderen setzen. Nichts anderes. Das ist enorm entlastend.

Vor Weltgetriebe

Sah ich drei Tage lang nicht

Die Kirschenblüte.

(Quelle: Reclam, Haiku japanische Dreizeiler, Ryota, Erscheinungsdatum 24.03.2023)

wohltuende Stille am Roten Wasser auf dem Nibelungensteig im Odenwald

 

 

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